Fordernd umspielt der Hauch des Windes ihr rotes Haar, streift über ihr mattes Gesicht auf dem, vom fahlen Mondschein erleuchtet, eine einsame Träne hinabgleitet. Die grölende Masse um sie herum verstummt, als der Inquisitor die letzten Worte zu ihr spricht, die sie jemals vernehmen wird, bis ein beißender Schmerz sich durch ihren geschundenen Leib windet. Mit einem Male erstrahlt der Platz in grellem Licht, und sie spürt wie die Flammen des Scheiterhaufens die armseligen Kleider von ihrem Körper zehren ...
Ihren gellenden Schrei drücken Haggard in einem ebenso düsteren Grunten aus, das gleichzeitig von einem schweren Gitarren- und Schlagzeuggewitter begleitet wird – die Qual der Verurteilten wird zu einem brachialen, musikalischen Sturm. Schon im nächsten Moment zerfließt die metallene Härte und sanfte Streicher und der liebliche Klang einer Harfe verkörpern das bittere Weinen derer, die um das Leben der Verdammten trauern. Wie keine andere Band verstehen es Haggard Stimmungen, Gefühle und Geschichten in emotionale Klangwelten zu verwandeln. Zur gleichen Zeit fordert die in München aus der Taufe gehobene Truppe die volle Aufmerksamkeit ihrer Hörer, verführt aber gleichermaßen zum Treibenlassen in einem Strom voll prächtiger Melodien, zarter Empfindungen und wütender Gewalt.
Was 1991 als experimentelles Death-Metal-Quartett begann, mündete schon vier Jahre später in klassische Bahnen, indem man eine Violinistin, eine Cellistin, eine Sopranistin und einen Pianisten fest in die Band integrierte. Mit Hilfe dieser neuen Instrumentierung war es Asis Nasseri, dem geistigen Gründungsvater und Inspirationsquell von Haggard, möglich seine Ideen und Träume noch greifbarer umzusetzen, was dahin führte, dass man bei der Veröffentlichung des Debütalbums „And Thou Shalt Trust ... The Seer“ 1997 bereits auf ein stattliches Orchester von 16 Musikern angewachsen war.
Trotz der klassischen Bandbreite entfernte man sich niemals von den Wurzeln des Death Metals, sondern verwob beide Stilrichtungen gekonnt zu einem schöpferischen Mosaik orchestralen Metals. Den musikalischen Spielraum, den ein Orchester in Verbindung mit harten Gitarreneinsätzen und hämmerndem Schlagzeug bietet, wusste Haggard schon von Beginn an eindrucksvoll zu nutzen, was sich in eingängigen aber dennoch komplexen Kompositionen niederschlägt – zahlreiche Breaks reißen den Hörer in ein einzigartiges Klangerlebnis hinein, lassen ihn eine Springflut der Emotionen erleben, einen Taumel der Sinne.
Gesanglich setzt man ebenfalls auf ein antagonistisches Wechselspiel aus Asis Nasseris düsteren Grunts und den filigranen klassischen Stimmen zweier Sopranistinnen, um nicht nur eine gänsehautschaffende Atmosphäre zu erwecken, sondern gleichsam auf glaubwürdige und überzeugende Weise eine mitreißende Story zu erzählen. Schon bei ihrem Erstling orientierten sich Haggard an der Geschichte, was sie mit ihrem zweiten Erfolgsalbum „Awaking the Centuries“ ein weiteres Mal unterstrichen. Ausgereifter und mit einer hervorragenden Produktion ließ man den französischen Astrologen Michel de Notredame - besser bekannt als Nostradamus - aus seinen düsteren Prophezeiungen auferstehen und hauchte seinen lyrischen Visionen einen mystischen, auditiven Funken ein, dessen Energie sogar bis in die Neue Welt reichte; zwei große Tourneen führten das Ensemble bis nach Mexiko, wo man die sagenhafte Stimmung von Haggard in Bild und Ton auf der DVD „Awaking The Gods“ festhielt.
Mit „Eppur Si Muove“ (ital. „und sie [die Erde] bewegt sich doch”) nimmt sich die mittlerweile auf 20 Damen und Herren angewachsene Band nun der historischen Figur Galileo Galileis an und lädt zu einer dritten Reise in die Vergangenheit unserer Erde ein. Im 16. Jahrhundert stellte sich der italienische Philosoph und Mathematiker Galileo gegen das kirchliche, geozentrische Weltbild und behauptete, dass sich die Erde um die Sonne, nicht die Sonne um die Erde drehe. Wie jeder, der sich gegen die göttliche Wahrheit stellte, wurde auch er von der Kirche dafür verurteilt.
Nach drei Jahren Schaffenspause verwandeln Haggard ihre Ideen nun plastischer als je zuvor in ein fulminantes Epos: Die sprachliche Authentizität verstärkt man durch die Verwendung von italienischen, deutschen, lateinischen und englischen Lyrics, das Klangbild verfeinert man durch ein erweitertes Instrumentarium, wie beispielweise einem Flügel, und die Kompositionen sind direkter, griffiger und treibender, ohne ihre versierte Verspieltheit einzubüßen.
Galileos Geschichte voller Träume, Glauben, Hoffnung, Demütigungen und Irrlehren erwecken Haggard zu einem atemberaubenden, musikalischen Eigenleben voller Kraft und Zerbrechlichkeit, voller Pathos und Sensibilität, voller Brachialität und Sanftheit und nicht zuletzt voller Eigenständigkeit. Denn Haggard haben, wie Galilio auch, immer an sich selbst geglaubt und sind ihren eigenen Wünschen und Idealen gefolgt.